Es ist zwar kein Werk aus heidnischer Zeit überliefert, das in systematischer Form über das slawische Pantheon berichtet, aber es gibt eine Fülle von Zeugnissen christlicher Missionare, von Sagen, Märchen und Volksliedern, sowie den Volksbrauch, archäologische Funde und die Mittel der vergleichenden Mythologie und Sprachwissenschaft, die uns Rückschlüsse auf die religiöse Erfahrungswelt der Slawen erlauben.
Georges Dumézil unterscheidet in seiner Rekonstruktion der Grundstruktur indoeuropäischer Religionen drei Bereiche, denen er verschiedene Klassen von Göttern zuordnet: die Himmels- und atmosphärischen Erscheinungen, den Krieg und das wirtschaftliche Leben. Die Übergänge sind allerdings überall fließend; ein Gott kann in seinen verschiedenen Aspekten unterschiedliche Bereiche repräsentieren, er kann regional unterschiedlich verehrt worden sein, und gewiß hat die Literarisierung ursprünglich oraler Überlieferungen dazu beigetragen, daß lokal variierende Göttertypen später miteinander identifiziert wurden.
Himmelsgötter sind etwa der slawische Swarog und sein „Sohn“ Svarožic, der germanische Tyr (der später auch als Kriegsgott verehrt wurde), der griechische Zeus und der römische Jupiter, die allesamt der Ordnung des Kosmos vorstehen. Im slawischen Perun, dem germanischen Thor oder Donar, tendenziell auch in Zeus als Blitzeschleuderer oder in Indra, der im Rigveda den Dämon Vrtra – wie Thor die Midgardschlange – bekämpft, tritt ein atmosphärischer Aspekt in der Störung des geordneten kosmischen Geschehens durch katastrophale Ereignisse hervor. Kriegsgötter sind der schon genannte Tyr sowie ebenfalls Indra, der nordische Thor in seiner Eigenschaft als Bekämpfer der Riesen, aber mehr noch Odin als Anführer der Einherier, der griechische Ares und der römische Mars. Dem wirtschaftlichen Leben lassen sich die Göttin der Feldfrüchte Demeter und die Göttermutter Hera (beide griech.), Frigg und die Wanengötter Freyja, Freyr und Njörd (germ.), der Vieh- und Fruchtbarkeitsgott Veles (slaw.) und die Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin Mokosch (slaw.) zuordnen.
Dumézils Einteilung nach „Funktionsbereichen“ ist jedoch umstritten und teilweise fragwürdig. So kann man den Aspekt des wirtschaftlichen Lebens auch als Unterkategorie des Bereiches der Fruchtbarkeit auffassen und Götter der Landwirtschaft und Haushaltung als „domestizierte“ Naturgötter ansehen, denen die archaischen Götter der Wildnis und natürlichen Schöpferkraft (Dionysos, Pan, Veles, auch Mokosch) gegenüberstehen.
Von den Fruchtbarkeitsgöttern sondern sich in einer anderen Hinsicht die Liebesgottheiten wie die slawische Siwa, Freyja (germ.), Aphrodite (griech.) und Venus (röm.) ab, während Toten- und Unterweltsgötter wie die germ. Hel, der röm. Pluto, der ind. Yama, vielleicht auch Gottheiten der (Meeres-)Tiefe wie Poseidon (griech.), und Psychopompoi (Seelenführer) wie der germ. Odin teils kosmische Züge tragen, indem sie eigenen Welt-Bezirken vorstehen, teils auch Fruchtbarkeitsaspekte verkörpern, insofern vom Kult der Toten und der fruchtbaren Tiefe das Gedeihen der Lebenden abhängt.
Ein anderes Charakteristikum der Einteilung indogermanischer Götter ist ihre häufig anzutreffende Gliederung in „Triaden“. Im Hinduismus etwa werden dem Schöpfergott Īśvara die drei Aspekte der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung personifiziert in den Göttern Brahma, Vişņu und Kalarudra (Śiva) zugesprochen; bald bilden sie eine Einheit (Trimūrti), bald treten sie auch getrennt von einander auf. Auch Wodan, Wili und We in der nordischen Mythologie sind vielleicht Erscheinungsformen derselben Gottheit, während es sich bei den oft zu dritt auftretenden Göttern Odin, Thor und Loki zweifellos um verschiedene Götterfiguren handelt. Die Römer verehrten Jupiter, Mars und Quirinus als Stadtgötter, und bereits die (nichtindogermanischen) ägyptischen Götter Osiris, Isis und Seth bildeten eine Triade. Wahrscheinlich ist die christliche Trinität, in der die drei Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist eine Einheit bilden, von solchen Vorstellungen beeinflußt, die im hellenistisch geprägten Orient zum kulturellen Gemeingut gehörten.
Allerdings sind auch polare Entsprechungen männlicher und weiblicher Gottheiten, etwa Zeus und Hera, Odin und Frigg, Freyr und Freyja, in Indien Brahma und Sarasvatī, Vişņu und Lakşmī, Śiva und Devī oder Zweiheiten von Vater und Sohn – in der slawischen Welt Svarog und Svarožic – häufig anzutreffen.
Die Dreiheit ist in der indoeuropäischen Mythologie auch in der Symbolik des Weltbaums erkennbar. Bei den Slawen handelt es sich um eine Eiche; in der skandinavischen Edda um die Weltesche Yggdrasil. Der Baum wurzelt in der Unterwelt, durchragt die mittlere Welt und umschließt mit seiner Krone die Welt der Götter:
„Im altslawischen Glauben besaß das Weltall die Gestalt einer riesigen Eiche, genannt Baum der Welt. In der Krone dieser Eiche befand sich das Nest eines magischen feuerspeienden Vogels, der Vermittler zwischen der göttlichen und der Menschenwelt sowie der Bote der Götter war. In den Wurzeln des Baumes wohnte hingegen eine Schlange, die sich frei zwischen der Welt der Lebenden und der Toten bewegen konnte. In der senkrechten Linie des Weltbaumes waren drei Wirklichkeiten verteilt – Prawia, Jawia und Nawia.
Prawia befand sich in der Krone des Baumes, das war die höhere Welt, die Ebene, die von den Göttern bewohnt war. Die Götter betrachteten die grundlegenden kosmischen Gesetze und die allgemeine universelle Ordnung, wobei sie der göttlichen Hierarchie unterstellt waren. Dies war festgelegt durch ihren Urahn mit dem Namen Rod. Im Pantheon der himmlischen Götter nahm die wichtigste Stelle Swarog ein, der himmlische Meister und Vater der Götter. Er herrschte über Prawia und hatte die Obhut über eines der vier grundlegenden Elemente: das Feuer.
Jawia, der sichtbare Teil der Welt, hatte ihren Platz am Stamm des Weltbaumes. Diese Ebene war alles das, was die Menschen umgab, die materielle Wirklichkeit, in der sie lebten. Über die Welt der Menschen herrschte der Gott Perun, der Meister der Blitze und Gewitter, den man den Höchsten nannte. Er forderte von dem menschlichen Wesen die Beachtung der göttlichen Gesetze. Alle, die sich dem entgegenstellten, und die Ungehorsamen bestrafte er hart. Diejenigen aber, die sich an die göttlichen Befehle hielten, die ihre Götter verehrten und an ihre Klugheit glaubten, konnten mit Wohlwollen rechnen.
In den Wurzeln des Weltbaumes befand sich Nawia, die unterirdische Welt des Todes. Dort wohnten die Seelen der Verstorbenen. Über die Nawia führte Weles als Gott des Wissens, der Magie und der Erfindungsgabe die Aufsicht. In der Nawia fanden die ordentlichen Menschen ihren Frieden nach dem Tod. Im Moment des Übergangs zur Unterwelt erwarben die Seelen der Verstorbenen gewaltige magische Fähigkeiten. Dank diesen waren sie in der Lage, ihren lebenden Verwandten, das heißt, ihren in der Jawia lebenden Kindern, Enkeln und anderen Verwandten, bei Bedarf Hilfe zu bringen.
Über diese drei Wirklichkeiten übte Gott Trojan die Herrschaft aus, wahrscheinlich ist er identisch mit Triglaw. Man nannte ihn den Allsehenden, weil er drei Köpfe und drei Paar Augen hatte und dadurch befähigt war, alles zu sehen und zu kontrollieren, was sich in Prawia, Jawia und Nawia abspielte. Er sorgte sich um die Ordnung in jeder dieser drei Welten. Im Falle der Verletzung stellte er die Ordnung des universalen Rechts sofort wieder her. Die grundlegende Pflicht Trojans war die Aufrechterhaltung des absoluten Gleichgewichts und der Harmonie in allen Ebenen des Weltbaumes.“(1)
Wer mit der Mythologie der Edda vertraut ist, wird eine Reihe von Ähnlichkeiten erkennen, die auf eine indoeuropäische Urverwandtschaft verweisen: So lebt ein Adler in der Krone der germanischen Weltesche, der Drachen Nidhöggr nagt an seiner Wurzel, und das Eichhörnchen Ratatosk läuft den Stamm des Baumes hinauf und hinunter, um Botschaften zu überbringen.
Der Weltbaum spielt auch in anderen eurasischen Kosmologien eine große Rolle, insbesondere bei den finnougrischen und sibirischen Stämmen (zuweilen kann bei schamanisch geprägten Völkern auch der zentrale Mast eines Zeltes den Weltbaum symbolisieren) oder im indischen und tibetischen Kulturkreis (wo der Baum durch den Weltberg Meru ersetzt ist).
Überall handelt es sich um das Modell einer Weltachse, die von der Erde aufragt und am Polarstern gipfelt.
Der Dreiheit im räumlichen Bereich korrespondiert eine Dreiheit auch der zeitlichen Gliederung, die aus dem Urerlebnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft resultiert. Auch hier legt die vielfältige Überlieferung einen gemeinsamen Ursprung der indoeuropäischen Mythen nahe: Im nordischen Mythos repräsentieren die drei Nornen Urd (Ursprung), Werdandi (das Werdende, Entstehende, Seiende) und Skuld (das Bewirkte, durch den Wandel Hervorgebrachte), die den Schicksalsfaden für Götter und Menschen spinnen, die Erscheinungsformen der Zeit. In der griechischen und römischen Mythologie entsprechen ihnen die Moiren und Parzen, und auch in der slawischen Welt gibt es verschiedene Gottheiten oder Dämonen, „die die Heiligkeit einer Zeitwende oder eines Zeitrhythmus, wie Mittag, Mitternacht, Sonnenuntergang usw. schützen. Insbesondere die Mittags- und Mitternachtsstunde gilt im allgemeinen als die Stunde der Geister, die in Ruhe erlebt werden soll. Es ist die Stunde der Polednice, Poludnica, Prezpolnica (Mittagsfrau) usw., des in Europa allgemein verbreiteten daemon meridianus, der auch allen Slawen bekannt war.“(2)
Die Zeit- und Schicksalsdämonen treten oft in furchterregender Gestalt in Erscheinung, verlangen, ähnlich der griechischen Sphinx, die Lösung bestimmter Aufgaben und drohen für den Fall der Nichterfüllung mit Strafe; ebenso gibt es aber auch Schicksalsgeister, die positive, beschützende Funktionen ausüben:
„Schon im 10. Jahrhundert kannten die Südslawen Sreća und Srjača, eine Analogie zur römischen Fortuna und griechischen Tyché, die in der späteren Folklore als schönes Mädchen beschrieben wurde, einen goldenen Faden spinnend und um den Pflegling und dessen Besitztum besorgt. Ihr Gegenpol ist Nesreća, von der nur die Folklore zeugt, in Gestalt einer faulen häßlichen Greisin mit Triefaugen, die baldigst loszuwerden ratsam war.
Die mittelalterlichen Quellen Rußlands führen Rod und Rožanicy als besondere Schicksalswesen an, die immer zusammen vorkommen. Rod (das Geschlecht) ist ein rätselvolles Wesen, das mit der Geburt des Menschen und mit der Entstehung des Geschlechts in Zusammenhang steht. Manche Forscher haben ihn deswegen zu einem der slawischen Hauptgötter erhoben. Doch dafür gibt es keine verläßliche Stütze. Der Kult des Rod gewann erst im 11./12. Jahrhundert an Bedeutung, als sich russische ‚Poučenija’ scharf gegen ihn wandten. Er war sicher keine zentrale Naturgottheit, sondern ein Wesen niederen und lokalen Ranges, das nur bei den Ostslawen verehrt wurde. Rod stand für die menschliche Fruchtbarkeit und wurde wahrscheinlich mit einem phallischen Kult verehrt; er schickte die Menschenseelen zur Geburt auf die Erde – in Form von Schollen, die er zur Erde warf und aus denen die Kinder geboren wurden. Daß Rod zur Gruppe der Dämonen gehört, bezeugt die Tatsache, daß man mit ihm Kinder schreckte.
Anders bei seinem weiblichen Pendant: Rožanicy oder Roždenicy, die immer im Plural angeführt wird. Es handelt sich um die bei der Geburt das Menschenschicksal bestimmenden Wesen, die schon seit dem Altertum bekannt waren und auf dem ganzen europäischen Kontinent verehrt wurden. Deshalb kannten sie auch alle Slawen. […] Sie erfüllen die Aufgaben der altgriechischen Moirai, der römischen Parcae oder der germanischen Nornen. Sie erscheinen binnen dreier Tage nach der Geburt eines Kindes um Mitternacht, meistens zu dritt, manchmal auch zu mehreren, als durchsichtige Gestalten schöner Mädchen oder Großmütterchen, von denen eine das Hauptwort führt – in Bulgarien wird sie ‚die goldene Großmutter’ genannt. Sie spinnen das Schicksal des Menschen wie einen goldenen Faden, dessen Zerreißen oder Zerschneiden den Tod bedeutet.“(3)
Wahrscheinlich hängt auch die Polykephalie (Vielköpfigkeit) slawischer Gottheiten mit den existenziell erlebten Dimensionen des Raumes und der Zeit zusammen. Vielköpfigkeit ist an wenigen Beispielen auch im germanischen und keltischen Kulturraum sowie in größerem Maße in Indien belegt; für die slawischen – und insbesondere die ostseeslawischen/wendischen – Götter kann sie jedoch als besonderes Charakteristikum gelten. Erstaunlicherweise wurde die Polykephalie dennoch - mit unzutreffenden linguistischen Argumenten - bestritten,(4) etwa von E. Wienecke ("Untersuchungen zur Religion der Westslawen, 1940"), der sogar den slawischen Polytheismus leugnet und nur eine amorphe Naturreligiosität anerkennen will, aber hier wirkten sich offenbar zeitbedingte Vorurteile von Forschern aus, die den Slawen jede eigenständige Kultur absprachen. Die mittelalterlichen Quellen belegen sowohl die Polykephalie als auch die Polyprosopie (Vielgesichtigkeit) von Kultidolen, und archäologische Funde bestätigen beide Varianten: Zwei Köpfe hat z.B. die Holzfigur, die auf der Fischerinsel im Tollensesee gefunden wurde, und vier Gesichter haben die Steinfigur, die 1951 bei dem Dorf Ivanovcy am Dnjestr entdeckt wurde, die 3 Meter hohe Statue aus dem südpolnischen Fluß Zbrucz und das Holzidol aus Wolin, die man als Darstellungen des Svantevit gedeutet hat.
Norbert Reiter resümiert die Frage nach der Vielköpfigkeit und Vielgesichtigkeit mit folgenden Worten:
„Lelewel hatte die vier Gesichter […] der Steinsäule aus dem Flusse Zbrucz mit den vier Himmelsrichtungen in Verbindung gebracht, während Rybakov den vier Gesichtern des Idols von Ivanovcy apotropäische [= Dämonen abwehrende, B.M.] Bedeutung zuschrieb. Es fällt schwer, zwischen diesen beiden Deutungen zu entscheiden. Die von Rybakov ist plausibel, paßt aber schlecht zu einem ‚Gott’, der ja Svantevit gewesen sein soll. Die von Lelewel leuchtet ein, wenn man die vier Himmelsrichtungen nicht geographisch, sondern mythologisch interpretiert: Osten als Aufgang, Süden als Höhepunkt des Lebens, Westen als Abgang und Norden als Tod.“(5)
Die große kultische Bedeutung der Himmelsrichtungen bei den Slawen verdeutlicht nach Reiter auch die Anlage von Kultbauten wie der Tempelanlage von Groß-Raden: Während die Wohngebäude der aus dem 9. Jhdt. stammenden Siedlung in SW-NO-Richtung lagen, erstreckte sich die Kulthalle exakt von West nach Ost. Die von einem Zaun, dessen Latten oben zu Köpfen zurechtgeschnitten waren, umgebene Halle konnte nur von Westen aus richtig betreten werden; an der Ostseite gab es nur einen Zugang, der über den zwischen Gebäude und Zaun verlaufenden Umgang erreichbar war. Da vor dem Osteingang Scherben eines Pokals, Rinderschädel und Reste eines Pferdeschädels gefunden worden waren, darf man annehmen, daß auf der Seite des Sonnenaufgangs der sakrale Bereich des Tempels lag.(6)
Wie das indoeuropäische Heidentum generell – und seine bronzezeitlichen Vorläufer, die wir anhand von Zeugnissen wie dem Sonnenwagen von Trundholm, der Himmelsscheibe von Nebra oder den steinernen Sonnenobservatorien, in denen der Sonnenlauf berechnet wurde, erahnen können – war auch die altslawische Religion wesentlich ein Kult der Sonne und des lebenspendenden Lichtes.
„Die Himmelskörper wurden als göttliche Wesen erlebt, so zeigen es schon die historischen Quellen (Al Masudi im 10. Jahrhundert, der Povest vremennych let vom Ende des 11. Jahrhunderts, die russischen Predigten und Apokryphen aus dem 11. bis 15. Jahrhundert, das Homiliar von Opatovice aus dem 12. Jahrhundert, das altserbische Gesetzbuch aus dem 13. Jahrhundert u.a.). Ähnlich wie die Inder oder die Germanen erlebten die Slawen die Sonne als ein allsehendes Auge oder als einen goldenen, von Pferdegespannen gezogenen Wagen (wie beim altgriechischen Helios), doch meistens haben sie die Sonne als eine geflügelte Lichtgestalt (männlich oder weiblich) mit goldenem Haar und mit den Feuerpfeilen ihrer Strahlen geschildert. Sie wohnt im Osten, wo sie morgens im Meer badet. Während ihrer täglichen Wanderung kämpft sie mit den Wolkendämonen, während der Sonnenfinsternis wird sie vom Drachen oder von den Werwölfen bedroht, wie bei den Germanen von dem Wolf Fenrir. Bei Volksfesten wird die Sonne durch ein flammendes Rad versinnbildlicht, das zur Sonnenwende vom Abhang herabgerollt wird […].“(7)
Die Verehrung der Sonne hat sich in christlicher Zeit noch lange gehalten: Der Großfürst von Kiew Vladimir Vsevolodovič (1063-1125) ermahnte seine Söhne in seinem Poučenie, die aufgehende Sonne als Zeichen Gottes zu preisen; die Lausitzer Wenden begrüßten sie vor dem Betreten der Kirche, indem sie den Hut abnahmen; Polen, Kroaten und Bulgaren bekreuzigten sich beim Sonnenaufgang, und die Goralen, ein kleines Volk im polnisch-slowakischen Grenzgebiet, legten sich sogar wie ein Kreuz mit ausgebreiteten Armen, den Kopf der aufgehenden Sonne zugewandt, auf den Boden. Beim Sonnenuntergang unterbrachen die Ukrainer die Arbeit; Bauern konnten ihr Gebet, wenn gerade kein Heiligenbild zur Hand war, auch angesichts der Sonne verrichten, und es galt als unschicklich, mit dem Finger auf die Sonne zu zeigen. Die Sonnenverehrung bezeugt auch die in mannigfacher Form überlieferte kreis-, rad-, kreuz- und rosettenförmige Symbolik und Ornamentik im Kunsthandwerk slawischer Völker; eine religiöse Bedeutung wird etwa durch die Verzierung von Urnen bei den Ostseeslawen nahegelegt. In gleichem Umfange waren Sonnensymbole wie z.B. Sonnenräder und Sonnenspiralen, die die Wanderung der Sonne am Himmel darstellen, auch bei den Germanen im Gebrauch. Und nicht zuletzt sind die slawischen und germanischen Feiern der Sommer- und Wintersonnenwenden wie das Entzünden und Umtanzen großer Feuer, Feuersprünge, Glutlaufen oder der Brauch, brennende Räder von Hügeln herabrollen zu lassen, Zeugnisse alten Sonnenkultes, auch wenn eine ungebrochene Tradition aus heidnischer Zeit nicht lückenlos belegbar ist.
Wie die Sonne wurde auch der Mond verehrt, der zur Sonne in einem polaren Gegensatz von Helle und Dunkelheit, Männlichkeit und Weiblichkeit, Klarheit und mystischer Tiefe steht. Auch den Mond begrüßte man durch Bekreuzigung oder Verneigung, allerdings überwog bei ihm Ehrfurcht oder gar Furcht die Freude, wenn man etwa glaubte, daß bei Neumond auf Bergen und Waldlichtungen Geister ihr Unwesen treiben. Gleichwohl galt der Neumond, da er Wachstum und Mehrung verkörpert, als Glücksbringer, weshalb in der slawischen Welt Talismane in Mondform, die sogenannten Lunulen, weit verbreitet waren. Man schöpfte in der Neumondnacht Quellwasser, sammelte heilkräftige Kräuter, hoffte auf Gesundheit und Wohlstand. Bei abnehmendem Mond hingegen sollte man das Nähen unterlassen, da die Nähte dann nicht halten würden, oder ungetaufte Kinder nicht in den Mondschein tragen, damit ihr Glück nicht wie der Mondschein schwände. Andererseits konnte die Wahrnehmung der Verminderung auch auf Krankheiten bezogen werden, die man deshalb bei abnehmendem Mond kurierte.
Auch wenn die Sonne in Märchen und Sage oft als gut, der Mond als böse oder zumindest furchteinflößend erscheint, darf man doch keine generalisierende Bewertung vornehmen. Polarität ist im Heidentum nicht mit einem strikten Schematismus von Gut und Böse gleichzusetzen, sondern die Pole sind aufeinander hingeordnet und bedingen einander. Das Leben und überhaupt das gesamte Geschehen des Kosmos entfalten sich im ewigen Spiel der Polaritäten, im Wechsel von Leben und Tod, Blühen und Vergehen, Sterben und Neugeburt.
Man hat in der Betonung des Dualismus bei den Slawen iranische Einflüsse aus der Zeit, in der slawische und iranische Stämme die eurasischen Steppen durchzogen, erkennen wollen, allerdings zeigt auch die altnordische Religion eine dualistische Struktur, vor allem im Mythos von Ragnarök, dem kosmischen Endkampf zwischen den Göttern und den Mächten des Chaos. Letztlich ist sie aber in einem zyklischen Weltbild aufgehoben, denn auf den Untergang der alten Welt folgen der Aufgang einer erneuerten Erde, die Wiederkehr des Lichtgottes Baldur aus der Unterwelt und die Etablierung einer neuen kosmischen Ordnung.
Bei den Slawen äußert sich der Dualismus in einem Zusammenwirken eines „guten“ und eines „bösen“ Gottes bei der Weltschöpfung. So soll der Himmelsgott Svarog den Gott der Unterwelt Veles aufgefordert haben, Sand vom Meeresgrund heraufzuholen. Diesen warf Svarog dann über die Meeresoberfläche, wo er sich in fruchtbares Land verwandelte. Veles hatte jedoch einige Körner in seinem Mund zurückbehalten, um daraus eine eigene Erde zu schaffen; als er diese dann ausspie, erhoben sich dort, wo sie hinfielen, schroffe Berge. Die unfruchtbaren Gebiete gehen also aus einem göttlichen Eigennutz hervor, sind aber doch Teile der Welt insgesamt. In oberflächlich christianisierten Versionen dieses Mythos wirken Gott und Satan in ähnlicher Weise bei der Schöpfung zusammen – Satan muß untertauchen, weil er im Gegensatz zu den Engeln über die nötige Schwere verfügt –, wobei sich regionale Abweichungen etwa darin zeigen, daß Satan als die eigentlich treibende Kraft auftritt, gar mit dem Teufel kämpft oder auch zunächst ein treuer Engel ist, der sich erst nach seiner List, etwas Sand für sich abzweigen zu wollen, zum Teufel wandelt; die Grundstruktur bleibt jedoch immer dieselbe und weist über das Modell der Genesis, in der bekanntlich Gott als einziger Schöpfer auftrat, dessen Welt im Anfang „gut“ war, auf einen Dualismus zurück, den manche Religionswissenschaftler mit dem altiranischen Zoroastrismus verbinden:
„Nach Zarathustra entstand die Welt aus dem Kampf zweier göttlicher Brüder, die aus Zurvan – der ungeschaffenen Zeit – geboren waren: Ahura Mazda als Repräsentant der lichten Kräfte des Guten und Angramainju (Ahriman), der die dunklen Kräfte des Bösen darstellt. Durch Vermittlung des Manichäismus übernahmen diese Ideen die Paulikianer, christliche Häretiker in Anatolien, die sie im 10. Jahrhundert den bulgarischen Bogomilen und diese wiederum den westeuropäischen Katharern weiterreichten. Zeitlich, räumlich und ethnisch steht den slawischen kosmogonischen Mythen die Lehre der Bogomilen am nächsten, die sich im Mittelalter zu den Serben und nach Rußland verbreitete. Es scheint also die Auffassung logisch, daß die dualistische Anschauung der Slawen von der Weltschöpfung auf diese Quelle zurückweist. Doch ihr Inhalt unterscheidet sie von den christlichen Häresien beträchtlich, denn ihre archaischen Motive verweisen zweifellos auf einen vorchristlichen Ursprung. […] Während der manichäistisch-bogomilische Dualismus die geistige und stoffliche Welt als Prinzipien des Guten und Bösen einander gegenüberstellt, tritt in der slawischen Kosmogonie die Polarität oder Partnerschaft [Hervorhebung von mir, B. M.] von Gut und Böse schon vor der Schöpfung der stofflichen Welt auf und steht darin der älteren, mazdaistischen Auffassung näher als den jüngeren christlichen Derivaten.“(8)
Auch die religiöse Terminologie von Slawen und Iranern zeigt manche Gemeinsamkeiten, die sie von anderen Indoeuropäern unterscheiden:
„Es handelt sich z.B. um die Verwechslung des Wortes nebo, iranisch nabah (Himmel, im Indischen aber Wolke), mit dem indogermanischen dieus; um die gemeinsame slawisch-iranische Verschiebung des Begriffes deinos (das Himmlische) zum Dämonischen (iranisch deva, slawisch div); um den Zentralbegriff bog (Gott) aus dem iranischen baga; weiter um die bedeutenden Begriffe wie svent, iranisch spenta (heilig), žrtva, iranisch zaothra (Opfer), vatra, iranisch átar (Feuer), mondr, iranisch mandran (weise, eigentlich Kenner der Mantren), vera, iranisch var- (für die Wahl zwischen Gutem und Bösem, später frávar (Glaube im allgemeinen) u.a.“(9)
Die indogermanische Wurzel dieus findet sich als deus in den romanischen Sprachen als Wort für „Gott“ (und ist auch in Götternamen wie Zeus, Jupiter – aus deus und pater – und Ziu, dem südgermanischen Himmels- und Kriegsgott, dem der nordische Tyr entspricht, enthalten); sie ist mit lat. dies, „Tag“, verwandt und findet sich in den slawischen Sprachen als russ. den’, poln. dzień, tschech. und südlslaw. den (bzw. dan) mit derselben Wortbedeutung „Tag“ als Zeiteinheit, aber insbesondere „lichter Tag“ wieder. Das Göttliche wurde also mit Licht, Sonne, Helligkeit sowie dem strahlenden Himmel verbunden; dementsprechend tragen Götter des Himmels und des Kosmos von dieser Wurzel abgeleitete Namen.
In den slawischen Sprachen hat sich indes ein anderer Begriff zur Bezeichnung des Göttlichen durchgesetzt: bog (russ. und südslaw.), bóg (poln) und tschech. bůh. Bei den Persern bedeutet Baga „Gott“ und ist ein Beiwort Ahura Mazdas. Den ursprünglichen Wortsinn enthält das altindische bhága(s): „Glück“, „Gut“, „Zuteilung“, im Rigveda personifiziert als göttlicher Zuteiler, von dessen Gunst Glück, Wohlstand und Macht erhofft wurden. Die Götter sind im altslawischen Verständnis also die Spender von Glück und Wohlstand, was sich auch in Wörtern wie dem dem russ. bogat „reich“ oder ubogij „armselig“, auch poln. zboże „Getreide“, tschech. zboží „Waren“ erhalten hat.(10)
Auch die Etymologie legt somit nahe, daß der Dualismus nicht im Sinne christlicher Häresien als strikter Gegensatz guter und böser Mächte, sondern als ein Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte zu verstehen ist, die in ihrer Gemeinschaft die Welt hervorbringen, ordnen und gestalten. Etwas schlechthin Böses hat in der heidnischen Welt keinen Platz, denn jede Zerstörung, so schmerzlich sie einer individuell begrenzten Perspektive auch erscheint, ist in einem Kosmos der ewigen Wiederkehr und Neuschöpfung immer auch eine Umgestaltung und ein Neubeginn.
Die Götter sind also keine bösen, strafenden Mächte, sondern die Spender von Fülle und Reichtum, auch wenn sie ihre Gaben nicht gleichmäßig verteilen, und das Opfer, das in allen heidnischen Religionen eine zentrale Kultpraxis darstellt, muß daher nicht zwangsläufig als Versuch, erzürnte Götter wieder zu besänftigen, verstanden werden (was nicht immer gelingt). Man kann dieses Urphänomen religiöser Handlung auch als rituelle menschliche Teilhabe am Schöpfungsgeschehen deuten: als Danksagung, indem man einer Gottheit etwas von dem zurückgibt, was sie ausgespendet hat, sowie als Nachvollzug ihrer zweckfreien, freudigen Schöpferkraft, indem man einen Teil ihrer Gaben „sinnlos“, gleichsam in freiem Spiel, verausgabt, anstatt alle Gaben zu nutzen und zu verbrauchen.
Anmerkungen
(1) Katarzyna Olimpia Koenig, http://slowianie.republika.pl/drzewo.htm, 2004. Zit. nach Werner Meschkank: Als die Wendengötter sterben sollten. Über die vorchristliche wendische Glaubens- und Götterwelt, Cottbus 2005, S. 3.
(2) Zdenek Vana: Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Die geistigen Impulse Ost-Europas, Stuttgart 1992, S. 124.
(3) Ebd., S. 125.
(4) Siehe dazu Norbert Reiter: Das Glaubensgut der Slawen im europäischen Verbund, Wiesbaden 2009, S. 117ff.
(5) Reiter, a.a.O., S. 119.
(6) Ebd., S. 106.
(7) Zdenek Vana, a.a.O., S. 61f.
(8) Ebd., S. 56f.
(9) Ebd., S. 45.
(10) Siehe hierzu Reiter, a.a.O., S. 7-9.